Die Klaviatur des Hörens

Die Klaviatur des Hörens

Das Ohr ist ein absolut faszinierendes Organ, denn anders als unsere übrigen Sinnesorgane wie Augen, Nase, Zunge und Haut, die über eine große Anzahl von Nervenzellenenden verfügen und dem Gehirn entsprechend „detailliert“ Meldung geben können, muss das Ohr mit nur einem Signal bzw. einer einzigen zeitlich limitierten Druckschwankung der Luft arbeiten. Jetzt, da ich hier sitze, wird mir bewusst, welcher akustische Brei meine Ohren erreicht:
   - der Fernsehton meiner kranken Tochter im Nebenraum
   - der leise Radioton, den ich fast immer genieße
   - die vorbeifahrenden Pkw's vor unserem Haus
   - diverse andere Geräusche wie Hundegebell, Vogelgezwitscher und Maschinenlärm


All diese Signale vereinigen sich in einer einzigen dreidimensionalen Druckschwankung der uns umgebenden Luftmoleküle, die auf das Trommelfell trifft. Die in der Paukenhöhle liegenden Gehörknöchelchen verstärken das Signal mechanisch, da Luft (Außenohr, Mittelohr) und Flüssigkeit (Innenohr) unterschiedliche Impedanzen (Schallwellenwiderstände) haben.


Ohr Gehörgang Mittelohr Innenohr

Die Flüssigkeitsverschiebung in der Schnecke verursacht Wanderwellen auf der Basilarmembran und führt an der Stelle der Amplituden Maxima zur Abscherung der Haarzellen, die dann Nervenimpulse über das Corti-Organ aussenden. Diese gelangen über den Hirnnerv zum Hirnstamm, erst hier laufen die Signale beider Ohren zusammen und werden in der Großhirnrinde verarbeitet.

Hörfläche Musik Sprache

Neuer Allein an diesem grob gezeichneten Weg, den das Schallsignal in unserem Kopf durchläuft, lässt sich der Aufwand ablesen, den die Natur getrieben hat, damit wir einen Frequenzbereich zwischen 20 Hz und 20 kHz wahrnehmen können. Der leiseste hörbare Schalldruck liegt bei etwa 20 Micro-Pascal (entspricht einem Schallpegel von 0 dB), die Schmerzgrenze liegt bei über 130 dB, das ist mehr als das 3.000.000 fache an Schalldruck gegenüber der unteren Ruhehörschwelle. Glücklicherweise besitzen wir gleich zwei dieser Wunderwerke in unseren Köpfen, sodass wir immer Stereo hören. Doch allein die Fähigkeit unseres Gehirns beide Ohrsignale in Beziehung zueinander auszuwerten, ermöglicht uns das räumliche Hören und zwar nicht beschränkt auf eine rechts / links Ortung sondern eine dreidimensionale Abbildung aller eintretenden Schallsignale!  

 Wie ist das möglich?

Bis jetzt kristallisierten sich folgende Instrumente, deren sich das Gehirn bedient, heraus:

Die Laufzeitdifferenz

bezeichnet den Zeitunterschied, den der Schall benötigt, um erst das, der Schallquelle zugewandte Ohr und danach das abgewandte Ohr zu erreichen.

Laufzeitdifferenz

Die Pegeldifferenz

bezeichnet den geringeren Pegel und veränderten Frequenzgang auf das, der Schallquelle abgewandte Ohr.

Der Frequenzgang verändert sich bei hohen Frequenzen ab 2 bis 3 kHz, da der Kopf für kleine Wellenlängen ein Hindernis darstellt und das Ohr im Schallschatten nicht erreichen.

Das Verhältnis zwischen Direkt- und Diffusschall

Wenn die Schallquelle sehr nah ist, haben wir einen hohen Direktschallanteil.

Typische Muster früher Reflexionen im Raum

Je nach Abstand zur Schallquelle differieren Geschwindigkeit und Winkel der Reflexionen, ebenfalls werden die Reflexionen genutzt um den umgebenden Raum zu erfassen (Badezimmer, Kirche usw.). 


Minimale Kopfbewegungen

Leichte unbewusste Peilbewegungen des Kopfes, die besonders hilfreich sind bei der vorne / hinten Ortung.

Wie man an dieser Auflistung unschwer erkennen kann, sind Raumreflexionen für die Ortung und das räumliche Hören unumgänglich. Hilfreich in diesem Zusammenhang ist das „Gesetz der ersten Wellenfront“ (Blauert), welches besagt, dass eine Schallquelle immer in der Richtung geortet wird aus der die ersten Schallwellen den Kopf erreichen. Das Gehör ist demnach in der Lage selbst in reflexionsreichen Räumen, in denen der Pegel der Reflexionen den des Originalschalls übertrifft, eine Ortung aufgrund der Laufzeitdifferenzen vorzunehmen. Bei kleinen Verzögerungszeiten <1ms wird dieses Gesetz durch die Summenlokalisation erweitert, das bedeutet, es wird zum Ausgangston dazu summiert. Mit steigenden Verzögerungszeiten tritt die Ortung laut dem Gesetz der ersten Wellenfront in kraft bis es ab ca. >40ms (in Abhängigkeit von Frequenz und Pegel) zur Echowahrnehmung kommt.

Diese Grafik verdeutlicht die Leistungsfähigkeit unseres Gehörs, bei dem die frühen Reflexionen <30ms also Boden-, Wand- und Deckenreflexionen nicht als separate Schallereignisse gedeutet sondern dem Ursprungston zugeordnet werden. Darüber hinaus erfährt das subjektive Erleben des Tons einen volleren und räumlicheren Eindruck als lediglich der Ursprungston.



Idealerweise sollten die Reflexionen des Originalschalls einen „similaren“ also gleichen Höreindruck hinterlassen wie der Ursprungston. Das kann von breitabstrahlenden Systemen, am besten Kugelschallquellen, geleistet werden, da direkt abstrahlende Lautsprecher zwar im Bassbereich durchaus omnidirektional sind, aber die höheren Frequenzen nur zielgerichtet nach vorne wiedergeben können. Das bedeutet, die erste Schallwelle erreicht den Hörer über die gesamte Frequenzbreite, die für den räumlichen Höreindruck und Klangfarben so wichtigen Obertöne erfahren lediglich eine unvollständige Reflexion, selbst wenn man sich im idealen Hördreieck des direkt abstrahlenden Lautsprechers befindet. Fatal, dass der Mensch 3x mehr Nervenzellen für die höheren Frequenzen besitzt als für die tiefen, daraus lässt sich die Wichtigkeit gerade dieser höherfrequenten Reflexionen ablesen. Wie reagiert der menschliche Organismus eigentlich auf diesen unnatürlichen, in den Höhen stark fokussierten Schalldruck? Mit Stress oder Entspannung? Aber warum beschäftigen wir uns überhaupt mit Raumreflexionen, wo doch im „Idealfall“ die Tonaufnahme nicht vom Indirektschall (bedingt und zusätzlich erzeugt durch den Hörraum) beeinflusst werden sollte und so den Höreindruck verfremden könnte. Dieser Anspruch erfüllt sich bloß im schalltoten Raum, ansonsten gilt: Alles was wir hören, ist ein Produkt aus Originalschallquelle und dem umgebenden Raum.

Zu Recht richten wir also unser Augenmerk auf den Hörraum, denn er ist die finale Audiokomponente und fungiert als Wiedergabeelement für die räumlich dargestellte Musik ähnlich der Projektionsfläche bei einem Diaprojektor. Eine verspiegelte Leinwand entspricht einem halligen Raum (Badezimmer) und eine schwarze Leinwand einem überdämpften, schalltoten Raum.

Jeder von uns hat genaue Klang-Assoziationen bei den Stichworten Badezimmer oder extrem bedämpfter Raum im Kopf, denn die Fähigkeit zum räumlichen Hören wird erlernt genauso wie Laufen oder Sprechen, womit wir bei dem eigentlichen Faszinosum angekommen wären: unserem Gehirn.

Dieser enorme Datenwust aus der Schnecke wird in einer Art neuronalem Netzwerk zwischengespeichert und vorsortiert, um dann auf das Wesentliche reduziert im Arbeitsgedächtnis (Kurzzeitgedächtnis) in das Bewusstsein einzugehen und sinnerfassend mit dem Langzeitgedächtnis verarbeitet werden kann. Unser Gehirn interpretiert alle vom Ohr kommenden Signale, deshalb sind wir in der Lage allein anhand der hohen Töne eines billigen Transistorradios unterschiedliche Musikinstrumente wie Kontrabass oder Geige zu erkennen oder das Hörverständnis durch das datenreduzierte Telefon. Der linken Gehirnhälfte wird die Wahrnehmung von Lautstärke, Rhythmus, Tondauer also die analytische Erfassung zugeschrieben, der rechten Gehirnhälfte eher Tempoänderungen und Ausdruck der Tonhöhen also die ganzheitliche Erfassung des Musikgeschehens. Für das Musikhören greifen wir auf beide Gehirnhälften zu, diese werden geprägt durch musikalische Erfahrung (z.B. Musiker – absolutes Gehör) und dem gegenwärtigen Befinden.

Aber was läuft da eigentlich im Hintergrund jenseits dieses klaren anatomischen Weges ab und ruft bei einigen Musikstücken Gänsehaut, erhöhten Puls und Atmung hervor? Im Verdacht steht das limbische System. Es liegt zentral im Kopf unterhalb des Großhirns und oberhalb des Hirnstamms. Dieses Nervenzentrum reguliert die vegetativen Prozesse wie Atmung, Puls, Hormon- und Botenstoffausschüttung. Das limbische System ist ein Geflecht aus miteinander kommunizierenden funktionellen Einheiten. Deren Herzstück, der Hippocampus, ist die zentrale Koordinationsstelle bezogen auf Gedächtnisfunktionen, Wahrnehmung und emotionale Prozesse, welche aufs Engste miteinander verwoben sind. Wenn jetzt also Geräusche und Musik auf Ohren, Knochen und Haut treffen, werden diese in elektrische Signale umgewandelt und vor dem Bewusstwerden in die Region limbisches System geleitet. Das macht Sinn, denn das Hören ist ein Fernsinn und falls Gefahr „gemeldet“ wird, ist es wichtig, dass der Körper darauf bereits eingestellt ist durch schnelle und unbewusste Hormonausschüttung (zischende Giftschlange – sofortiges Zurückspringen). Das Frühwarnsystem Gehör scheint demnach ebenfalls direkt verbunden zu sein mit dem Langzeitgedächtnis, um eine extrem schnelle Abgleichung von Geräuschen vornehmen zu können ohne den zeitaufwändigen, bewusst ablaufenden Weg (ähnlich einem Reflex). Ein erkennendes Hören ist einzig durch die gleichzeitige Vernetzung zum Langzeitgedächtnis möglich, hier liegen die gespeicherten Informationen zum Klang einzelner Geräusche, Stimmen, Musikinstrumente und so fort. Wobei eine emotional sehr positive oder negative Besetzung durch das limbische System für die schnelle Speicherung im Gedächtnis wichtig ist, das zeigen die berühmt-berüchtigten Ohrwürmer, die man tagelang nicht los wird. „Musik hören“ bedeutet immer Gefühl und Erinnerung, selbst hintergründig laufende Musik, die nicht explizit wahrgenommen wird, löst Körperreaktionen aus. Der Mensch hat die Fähigkeit Sinneswahrnehmungen aus dem Langzeitgedächtnis zu reproduzieren und mit der Realität zu vergleichen, immer gleiche Sinneseindrücke hinterlassen starke Erinnerungen und Assoziationen. Musik zu hören ist ein ewiger Lernprozess unseres Gehirns, wobei sich ständig wiederholende Eindrücke in das Langzeitgedächtnis aufgenommen und bei positiver Besetzung belohnt (Dopamin, Endorphine) werden. Der Mensch ist bekanntermaßen ein Gewohnheitstier!

Wenn jetzt meine Kinder ausschließlich mit stark komprimierter Musik über Knöpfe im Ohr aufwachsen, bedeutet es, dass sie nur diese Art von Musik als Musik erkennen lernen? Der Umkehrschluss wäre, dass sie Live Musik und Konzerte gar nicht mehr als Musik erkennen und genießen könnten sondern als etwas Fremdes und Neuartiges empfinden würden.

Mit dieser Erkenntnis kann ich die Aussage eines Bekannten nach einem wunderbaren Konzertabend deuten, der sagte: „Das Orchester war wirklich gut, aber wer hat eigentlich die Höhen so weit raus gedreht?“ Anscheinend hat er sich sein Gehör durch direkt abstrahlende und bündelnde Lautsprecher so konditioniert, dass er nur diesen überzeichneten Höreindruck als Musik zulassen konnte. Für mich ist es unverständlich wie man bei stark bündelnden Lautsprechern eine Räumlichkeit oder Bühne hören kann. Ich höre da immer zwei Schallquellen! Schlagwörter wie Loudness War, digitally remastered, MP3 usw. sowie die Tatsache Tontechnikern, Ideologien der Wiedergabetechnik und damit einer Konditionierung und Erziehung meines Gehörs quasi hilflos ausgeliefert zu sein, lässt mich handeln und akribische Arbeit in meine Musikanlage und meinen Hörraum investieren.

Die Kunst der Musikwiedergabe in den eigenen vier Wänden besteht darin, eine authentische Illusion der Realität zu schaffen, um das Erleben von Musik ganz individuell genießen zu können. So kann ich die Klaviatur des Hörens in seiner ganzen Bandbreite ausschöpfen.


Anette Duevel 

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